Reisen für Alle: Einheitliche Kennzeichnung


17 Jul 2013 [09:21h]     Bookmark and Share


Reisen für Alle: Einheitliche Kennzeichnung

Reisen für Alle: Einheitliche Kennzeichnung


Erstmals bundesweit verlässliche Kriterien für barrierefreie Angebote.

Berlin – Es ist auf den Weg gebracht. Künftig können Menschen mit Handicap, Senioren und Familien mit kleinen Kindern bei ihrer Reisevorbereitung deutschlandweit auf einheitlich geprüfte Informationen zugreifen. Nach intensiver Vorarbeit wird erstmals ein bundesweites Kennzeichnungs- und Qualifizierungssystem umgesetzt, das barrierefreie Angebote und Dienstleistungen ausweisen wird. Es will unliebsamen Überraschungen vorbeugen und eine Teilhabe Aller ermöglichen. Dabei bündelt es erfolgreiche Ansätze und Initiativen auf regionaler und lokaler Ebene im Land, die vielfach bereits existieren. Mit diesem Schritt macht der föderal aufgestellte Deutschland-Tourismus einen gewaltigen Qualitätssprung. Ziel ist, Informationen entlang der gesamten touristischen Servicekette zu liefern, so dass allen Zielgruppen eine transparente und vor allem verlässliche Grundlage für ihre Reisentscheidung zur Verfügung steht – sei es für Ausflüge, Urlaubs- oder Geschäftsreisen.

Den offiziellen Startschuss hat am 28. Juni 2013 Ernst Burgbacher, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie und Beauftragter der Bundesregierung für Mittelstand und Tourismus, gegeben. Auf dem Fachkongress „Tourismus für Alle – Barrierefreiheit als Qualitätsmerkmal“ in Berlin bezeichnete Burgbacher die Schaffung des bundesweiten Kennzeichnungssystems „als wichtigen Zwischenschritt“ des vom BMWi geförderten Projekts zur „Entwicklung  und Vermarktung barrierefreier Angebote und Dienstleistungen im Sinne eines Tourismus für Alle in Deutschland“. Zwei Aufgaben verfolgt das im Rahmen des Nationalen Aktionsplans der Bundesregierung initiierte Projekt, dessen Teilnahme freiwillig ist: Es bedient das Informationsbedürfnis aller, die darauf angewiesen sind, und es stärkt die deutsche Tourismuswirtschaft im internationalen Wettbewerb.


Barrierefreies Denken bedeutet Komfortsteigerung für Alle
 

Ein einfacherer Zugang zum Reisen und zu Freizeitaktivitäten fördert laut Burgbacher die Reiseintensität und Teilhabe Aller am Tourismus. „Wir brauchen noch mehr Impulsgeber in Regionen und Wirtschaftsverbänden“, wirbt der Parlamentarische Staatssekretär für die „Herkules-Aufgabe“, um in der Umsetzung alle Bereiche der touristischen Servicekette abzudecken: von Reiseinformation über Buchung, An- und Abreise sowie Aufenthalt, von Betreuung, Serviceleistung, gastronomisches Angebot bis hin zu kulturellen Aktivitäten und Freizeitgestaltung vor Ort. „Alle profitieren gewaltig“, so Burgbacher. Wesentliches Projektziel ist die deutschlandweite Bündelung und Kennzeichnung sowie die Präsentation geprüfter Angebote und Dienstleistungen auf einer barrierefrei gestalteten Internetplattform. Burgbachers Appell an die mehr als 200 Teilnehmer aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft: „Lassen Sie uns Barrierefreiheit zu einem Markenzeichen des Tourismus in Deutschland entwickeln.“

Unterstützt wird dies auch von Dominik Peter, der als rollstuhlfahrender Reisejournalist überraschende Erfahrungen – vor allem in Ländern außerhalb der EU gemacht hat. Dort schläft die Konkurrenz nicht. In seinem persönlichen Erfahrungsbericht mahnt er: „Wenn Deutschland teilhaben will am internationalen Tourismus, müssen wir uns gewaltig anstrengen.“


Verlässlich Vertrauen schaffen

Das bundesweite Kennzeichnungssystem „Reisen für Alle“ stellt diesbezüglich einen wichtigen Schritt dar: „Oberste Priorität hat die Information der Verbraucher“, betont Rolf Schrader, Geschäftsführer des Deutschen Seminars für Tourismus (DSFT) Berlin e.V.. „Im Mittelpunkt der Kennzeichnung „Reisen für Alle“ steht, verlässlich Vertrauen zu schaffen und Sicherheit zu bieten.“ Das Deutsche Seminar für Tourismus ist gemeinsam mit der Nationalen Koordinationsstelle Tourismus für Alle e.V. (NatKo) vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie mit der Durchführung des bundesweiten Projekts beauftragt. Seit Oktober 2011 haben beide Organisationen die nationalen touristischen Dach- und Betroffenenverbände auf die Umsetzung eingeschworen und arbeiten bei der Entwicklung und Umsetzung eng zusammen. „Die Einbindung verschiedenster Akteure macht es nicht einfach“, resümiert Rolf Schrader, „wir freuen uns daher umso mehr über die aktive und konstruktive Zusammenarbeit der vergangenen Jahre und sind glücklich, dass alle im Boot sind.“ NatKo-Partner Guido Frank erklärt: „Zukünftig kann jeder Interessierte das System nutzen, ob Land, Verband, Region, Ort oder Unternehmen. Als Lizenznehmer erhält er Zugang zu den Erhebungsunterlagen, kann Erheber schulen und Erhebungen nach dem bundesweiten System durchführen.“ DSFT und NatKo fungieren dabei als Betreiber und zentrale Kennzeichnungs- und Prüfstelle. Sie erstellen Prüfberichte, vergeben die Kennzeichnung, koordinieren die Teilnahme an den mit wissenschaftlicher Begleitung konzipierten Online- und Präsenzschulungen sowie den Aufbau und die Pflege der bundesweiten Internetplattform auf.

Deutschland als barrierefreies Reiseland – international wettbewerbsfähig

Für die Deutsche Zentrale für Tourismus (DZT) so Innovationsmanager Olaf Schlieper, sind verlässliche und einheitliche Kriterien unabdingbar, um Angebote und Dienstleistungen im Ausland zu vermarkten. Die DZT hat Barrierefreiheit in ihrer Satzung festgeschrieben und will Deutschland als barrierefreies Reiseland, auch für Geschäftsreisende, immer weiter ausbauen. Daher gehört die DZT zu den Projekt-Treibern. Derzeit kann die Dachmarketingorganisation auf den Auslandsmärkten nur exemplarisch vorgehen. „Mit gutem Gewissen vermarkten wir im Ausland die AG Barrierefreie Reiseziele“, erklärt Schlieper, denn „Ausländer beurteilen laut Qualitätsmonitor den Standard in Deutschland kritischer als inländische Reisende.“ Mit der einheitlichen Kennzeichnung und Qualifizierung kann die DZT nun ihr Portfolio zunehmend um ein geprüftes und verlässliches Angebot erweitern und Deutschland international wettbewerbsfähig halten. Die deutschlandweite Internetplattform des Projekts wird einen einfacheren Zugang für Alle schaffen. Gäste und Gastgeber können durch prägnante Suchkriterien und Filter miteinander in Kontakt treten und die Nutz- und Erlebbarkeit gewünschter Angebote anhand verlässlicher Detailinformationen checken. Gleichzeitig stehen geeignete Daten für das Auslandsmarketing der DZT und der Länder zur Verfügung. Damit bietet das Projekt Mehrwert für zwei Zielgruppen: „Wir bieten eingeschränkt Reisenden durch geprüfte Qualität zuverlässige Grundlagen für Reiseentscheidungen“, erklärt Rolf Schrader, „und  Anbieter erhalten die Gelegenheit, sich zu profilieren und das stetig wachsende Marktsegment zu erschließen – bei uns und über die Plattformen der DZT sowie der Landesmarketing-Organisationen.“ Aber damit nicht genug – es gilt eine Willkommenskultur aufbauen, so Innovationsmanager Olaf Schlieper, dem ein selbstverständlicher Umgang mit allen Gästen vorschwebt und dass sie „entsprechend professionell und von Herzen begrüßt werden“. 

Kennzeichnung für Alle: Jeder kann mitmachen – von Ort und Hotel bis Taxi und Arzt

Mitmachen kann jeder – Betrieb oder Ort, …. „Die Orte können nur gewinnen“, ruft der Präsident des Deutschen Heilbäderverbands Ernst Hinsken zum Mitmachen auf. Auch Gastgewerbe, Tourist-Information, Reisebüro, Reiseveranstalter, Verkehrsträger, Freizeitanbieter, Taxiunternehmen, Ärzte und öffentliche Infrastruktur können ab sofort nach dem neuen System gekennzeichnet werden. Die Kennzeichnung ist für drei Jahre gültig und ist mehrstufig aufgebaut. Die Informationsstufe „Information zur Barrierefreiheit“ liefert in Detailtiefe alle Informationen, die für die spezifischen Bedürfnisse der verschiedenen Gästegruppen relevant sind. Speziell geschulte Erheber besuchen die Betriebe und Orte und stellen eine einheitliche Informationsqualität und -tiefe auf Basis deutschlandweit gültiger Erhebungsbögen sicher. Die Informationsstufe ermöglicht allen interessierten Anbietern einen Zugang zu dem Kennzeichnungssystem. Auf dieser Stufe satteln zwei Stufen „Barrierefreiheit geprüft“ auf: Diese Stufen weisen Anbieter aus, die Qualitätsanforderungen aus Zielvereinbarungen oder DIN-Normen für mindestens eine Gästegruppe erfüllen. Insgesamt werden sieben Gästegruppen berücksichtigt: Gäste mit Gehbehinderung, Rollstuhlfahrer, Gäste mit Hörbehinderung, Gehörlose Gäste, Gäste mit Sehbehinderung, Blinde Gäste, Gäste mit kognitiven Beeinträchtigungen. Die Kosten für die Erhebung legen jeweils die Lizenznehmer fest, die Kosten für die Vergabe der Kennzeichnung sind deutschlandweit einheitlich, können jedoch durch Projekte in den Ländern unterstützt und co-finanziert werden. Lizenznehmer können z.B. die heute bereits aktiven Landesmarketingorganisationen und die Arbeitsgemeinschaft Barrierefreie Reiseziele sein, die seit 2005 engagierter Vorreiter und Wegbereiter für die Destinationsebene ist, aber auch Orte, Regionen, Verbände etc. Glücklich über die bundesweit einheitliche Kennzeichnung, die eine Vermarktungslücke schließt, ist Dr. Carmen Hildebrandt, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft aus Erfurt. Die AG Barrierefreie Reiseziele hatte selbst aufgrund der Problematik der unterschiedlichen Kennzeichnungen vor einigen Jahren einen eigenen Versuch der Vereinheitlichung in den Mitgliedsregionen gestartet, musste es aber aufgrund unterschiedlichster Interessen bei einem Versuch belassen.

Bundesprojekt als Impulsgeber

Für die Tourismusagentur Schleswig-Holstein (TASH) ist das Bundesprojekt Impulsgeber und Hoffnungsträger. In enger Vernetzung will TASH-Geschäftsführer Christian Schmidt das beliebte, bei der Vermarktung barrierefreier Angebote aber noch unterentwickelte Bundesland nach vorn bringen (Link zur Präsentation). Unterstützt vom DEHOGA-Schleswig-Holstein und mit einem Förderprojekt bis 2015 gilt es, Barrierefreiheit als Querschnittsaufgabe voranzutreiben. Vom Start weg haben sich elf Pilotregionen gemeldet, in denen die TASH als Lizenznehmer ab September 2013 flächendeckend Erheber schulen und Sensibilisierungsmaßnahmen starten wird. Schmidts Ziel ist, „Barrierefreiheit nachhaltig zu integrieren“.

Auch Ina Schuler aus Bad Zwischenahn, einem Kurort in dem Barrierefreiheit vor allem aufgrund des Durchschnittsalters der Gäste von 60 Jahren eine wichtige Rolle spielt, unterstreicht die regionale und überregionale Vernetzung und die Rolle des Kümmerers. In ihrem Erfahrungsbericht hebt sie die barrierefreie Infrastruktur vor Ort hervor und betont die Notwendigkeit der Zusammenarbeit aller am Tourismus Beteiligten, daraus entstehende Synergieeffekte und ruft dazu auf, nicht erst zu starten, wenn alles perfekt ist – auch einfache und kreative Lösungen sind wertvoll.

Zur richtigen Zeit kommt das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie geförderte Projekt auch für die deutsche Hauptstadt. Gerhard Buchholz von visitBerlin betont, dass Berlin sich „verbindlich anschließen und das Kennzeichnungs- und Qualifizierungssystem dankbar umsetzen wird“. Um die erwarteten Standards ausländischer Gäste zu erfüllen – ihr Anteil liegt bei 42,5 Prozent –, müsse sich die Stadt noch mehr anstrengen. „Dabei kann Tourismus das Zugpferd sein“, hält Buchholz ein Plädoyer für den Runden Tisch Barrierefreie Stadt, den die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt gegründet hat, „der Weg der täglichen Auseinandersetzung ist wichtig.“ visitBerlin will die Metropole stärker als ‚Destination für Alle‘ promoten und Berlin 2014 auf der ITB am Messestand mit ersten barrierefreien Modellrouten zu Shopping, Ausflügen und kulturellen Stätten präsentieren. Buchholz: „Wir sehen Barrierefreiheit gesellschaftspolitisch als Marketingaufgabe.“ 

Ein Hotel für Alle

Als Aushängeschild eines barrierefreien Hotels und als einer der wichtigsten Ansprechpartner für visitBerlin präsentierte das Berliner Scandic Hotel, seine Erfolgsgeschichte: „Anfangs wurden wir im Berliner Markt belächelt“, erzählt Verkaufs- und Marketingleiter Heiko Kain dem Fachkongress-Publikum, „doch der lange Atem hat sich ausgezahlt.“ Das Haus am Potsdamer Platz will „bewusst ein Hotel für Alle sein“ – und es beweist, dass Barrierefreiheit vom Stockhalter bis zum vibrierenden Wecker mit Charme integriert ist. Von 65 Prozent im ersten Jahr konnte das Vorzeigehotel seine Wiederempfehlungsrate auf 93 Prozent steigern. Die mehr als 50 barrierefreien Zimmer sind gut ausgelastet. „Wir gehen lockerer mit dem Thema um“, macht Kain Nachahmern Mut, „die Brille, durch die wir gucken, ist so vielfältig.“ Seit 1993 beschäftigt sich die Scandic Group mit Accessible Tourism. Mit Magnus Berglund ist ein weltweit gefragter Botschafter für Menschen mit besonderen Bedürfnissen für die Hotelkette und das Thema Barrierefreiheit unterwegs. 

Barrierefreiheit entlang der gesamten Servicekette – von Mobilität bis hin zu Museen, Freizeit und Events

Da Barrierefreiheit weder an der Tür eines Hotels beginnt noch endet, lieferte der Fachkongress Impulse und Best-Practice entlang der gesamten Servicekette: So berichtete Anja Ludwig, vom Bundesverband Deutscher Omnibusunternehmer e. V. (BDO)  von den Herausforderungen bei Busreisen bezüglich Kosten, Standards und Sicherheit. Christine Albrecht von den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) stellte die vielfältigen Schritte der BVG auf dem Weg zu einem umfassenden barrierefreien ÖPNV-Angebot in der Hauptstadt vor und Sandra Niedenthal vom Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft e. V. (BDL) thematisierte den Umgang deutscher Flughäfen und Fluggesellschaften mit behinderten Flugreisenden und Flugreisenden mit eingeschränkter Mobilität.

Berichte von Natur- und Kulturerlebnissen sowie barrierefreien Veranstaltungen rundeten den Fachkongress ab. So berichteten Thomas Kieckbusch und Michael Hofmann von den Aktivitäten beim und rund um den Deutschen Evangelischen Kirchentag – Barrierefreiheit ist hier Selbstverständlichkeit und nur Ausnahmen davon werden gekennzeichnet. Tobias Wiesen zeigte anschaulich, wie kommunikative und bauliche Barrieren im Nationalpark Eifel abgebaut werden mit dem Ziel, den Nationalpark für Alle ohne fremde Hilfe erlebbar zu machen. Dass dies nicht immer einfach ist, präsentierten Dr. Heinz Buri und Wilma Otte von der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, die nach einer Zugänglichkeitsanalyse der Schloss- und Gartenanlage Sanssouci viele Schwierigkeiten entdeckten und dabei oft an die Grenzen zwischen Schutz des historischen Bestands und Barrierefreiheit stießen – denn die Bedürfnisse der Besucher müssen dort ihre Grenze finden, wo der historische Bestand gefährdet würde.

Foto: Edgar Delmont









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