Fliegen soll für jedermann komfortabler und erlebnisreicher werden sowie für ältere, übergewichtige oder körperlich behinderte
Menschen auch einfacher. Eine Gruppe von Unternehmen aus der Luftfahrtindustrie hat dafür ein faszinierendes Kabinenkonzept entwickelt.
Stuttgart – Holzklasse ade. Die Flugzeuge der Zukunft bieten den Passagieren unterschiedlich breite Sitzvarianten in den Kabinen, Entertainment
pur sowie weltweites Surfen und Telefonieren während des Flugs. Geräumige Toiletten vermitteln ein vollkommen neuartiges Hygieneerlebnis. „Flugzeuge wandeln sich von einer nüchternen Beförderungsumgebung zu einer multimedialen und komfortablen Erlebniswelt“, prophezeit Jörg Schuler, Vice President Cabin & Cargo beim Flugzeughersteller Airbus.
Den Trend will jetzt ein vom Bundesverband der Deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie (BDLI) koordinierter Verbund von 16 Unternehmen voranbringen. Das BDLI-Kompetenznetzwerk Cabin/Cargo hat dafür in den letzten Jahren ein technologisches Konzept entwickelt. „Unter dem Slogan ‚Imagine innovations flying tomorrow‘ kamen fünf bahnbrechende Entwicklungsansätze für zukünftige Kabinen- und Frachtsysteme heraus“, berichtet Dr. Stefan Berndes, Leiter der Fachabteilung Luftfahrt, Ausrüstung und Werkstoffe beim BDLI: „Wir werden die zum Teil revolutionären Konzeptideen auf der weltweit bedeutendsten
Fachmesse ‚Aircraft Interiors Expo‘ in Hamburg präsentieren, zusammen mit Fluggesellschaften, Forschern und Passagieren darüber diskutieren und deren Akzeptanz erkunden.“
Lange Zeit dachte und entwickelte die Luftfahrtindustrie vor allem technologieorientiert – bei Tragflächen und Triebwerken ebenso wie für die Kabine. Die Anforderungen an die Kabine ergaben sich vor allen Dingen aus Effizienzsicht: Sie sollten mehr Passagiere befördern und optimierte Catering- und Reinigungsprozesse ermöglichen. Darüber hinaus erfordern wechselnde Marktanforderungen eine schnelle und unkomplizierte Konfigurierbarkeit der Kabine. Neben diesen Anforderungen ist den vielfältigen im Flugverkehr relevanten Sicherheitsvorschriften zu entsprechen.
Jetzt steht ein Paradigmenwechsel bevor: „Die Luftfahrtindustrie berücksichtigt bei der Kabinenausstattung viel stärker auch die Ansprüche der Konsumenten“, sieht Berndes. Die Kabine wird damit zu einem Teil des Brandings der Airlines. Sie gestalten den Kabinenraum entsprechend ihrer unterschiedlichen Zielgruppen. Was in anderen Unternehmensbereichen schon lange gang und gäbe ist – nämlich Individualisierung und Entertainment – hält Einzug in den allgemeinen
Luftverkehr.
Hubschrauber-Hersteller Eurocopter war einer der Vorreiter auf diesem Gebiet. Als Reaktion auf die steigende Nachfrage nach einer noch exklusiveren Form des Reisens bietet das Unternehmen einer zahlungskräftigen Kundschaft für mehrere Modelle als Zusatzausstattung ein spezielles „Stylence“-Paket an: mit einer besonders schall- und schwingungsgedämmten Kabine, einer vollständigen Büro- und Telekommunikationsausstattung sowie einem luxuriösem Interieur. Die Designhubschrauber entwickelte Eurocopter in Zusammenarbeit mit den Edelmarken Hermes und Mercedes-Benz.
Das BDLI-Kompetenznetzwerk hat sich zum Ziel gesetzt, Visionen für das Fliegen der Zukunft in fünf Handlungsfeldern zu konkretisieren: Beim Einstieg ins Flugzeug erwartet den Passagier eine automatische Handgepäckaufbewahrung. Pfeile im Boden leiten ihn genau zu seinem Sitzplatz im oberen oder unteren Abteilbereich des Flugzeugs. Kabinenwände sind riesige Bildschirme für Filme, Informationen oder visuelle Innenraumgestaltung. Toiletten reinigen sich selber, vermitteln ein umfassendes Hygieneerlebnis und ein Wohlfühlfeeling. Smartphone, Tablet-PC oder Notebook lassen sich weit über den Wolken
wie auf der Erde einsetzen, elektronische Bordkarten beschleunigen das Boarding. (Siehe: „Visionen für die Kabine der Zukunft“)
Für die Airlines weltweit wird die Innenausstattung ihrer Kabinen zunehmend wichtig. „Die Leistungsfähigkeit der Küche, der Komfort im Sitzplatzbereich sowie die Ausstattung der Toiletten sind jene Elemente des Flugzeugs, die ein Passagier bewusst wahrnimmt und nach denen er die Zufriedenheit mit einem Flug bewertet“, betont Berndes, „damit wird die Kabine für Fluggesellschaften zum Markenkern.“
Im wachsenden Wettbewerb um Passagiere punkten Fluggesellschaften zudem mit Angeboten, die sich dem individuellen Bedarf verschiedener Nutzergruppen anpassen. In der westlichen Welt sind deutliche Veränderungen in der Bevölkerung zu verzeichnen. Der Anteil älterer Menschen wächst; darüber hinaus sind dem steigenden Anteil übergewichtiger Passagieren und den Anforderungen körperlich gehandicapter Passagiere Rechnung zu tragen. Für diese Nutzergruppen zählen insbesondere ausreichend Platz während des Fluges und das problemlose Bedienen aller Geräte und Einrichtungen an Bord. Hinzu kommen zunehmend Familien mit Kindern sowie ein wachsender Anteil an weiblichen Fluggästen.
In anderen Regionen hingegen – so etwa in Asien und im Pazifikraum – wächst besonders die Zahl der jungen Passagiere. Sie wollen vor allen Dingen kostengünstig und stressfrei fliegen, mit ihrem Notebook arbeiten und Entertainment haben. „Flugzeughersteller müssen den Airlines eine möglichst flexible Plattform zur Umsetzung ihrer Geschäftsmodelle anbieten“, betont Airbus-Manager Jörg Schuler, der auch das BDLI-Kompetenznetzwerk Cabin/Cargo leitet. Die Konzeption und der Bau von Flugzeugkabinen ist dabei eine besonders anspruchsvolle Aufgabe. „Küchen zum Beispiel müssen auf kleinstem Raum all das können, was in einem Restaurant oder Bistro machbar ist“, erläutert BDLI-Experte Berndes, „Toiletten sind hochtechnologische Systeme, die auch noch in 10.000 Kilometer Höhe einwandfrei funktionieren müssen, Flugzeugsitze sind Hightechprodukte.“ Neben ausgeklügelten Funktionen sind geringes Gewicht, geringerer Raumbedarf, umfassender Brandschutz sowie alle sonstigen Aspekte der Flugsicherheit weitere wichtige Kriterien für den Einsatz über den Wolken.
Neben Flugzeugbauer Airbus gehören dem BDLI-Kompetenznetzwerk viele mittelständische Unternehmen an. Berndes: „Jeder Partner sucht sich ein für ihn geeignetes Thema aus und lässt sich bei der Entwicklung neuer Produkte von der gemeinsamen Vision leiten.“ Dabei ist in vielen Bereichen eine langfristige Perspektive angesagt: „Bei den Themen weltweite Connectivity, intelligente Oberflächen und hygienische Toiletten arbeiten Firmen schon an konkreten einzelnen
Produkten“, weiß Stefan Berndes, „in anderen Themenfeldern wird noch viel Forschungs- und Entwicklungsarbeit benötigt.“
Auf die Entwicklung neuartiger Bordküchen und Bordtoiletten konzentrieren sich in diesem Team Unternehmen der Diehl-Gruppe ebenso wie Hutchison Aerospace und Sell. Innovative Wassersysteme und Not-Sauerstoffanlagen haben Firmen wie BE Aerospace, AOA Apparatebau und Zodiac im Blick. Die Beleuchtungstechnik der Zukunft entwickeltGoodrich Lightning mit. Wie sich das Handgepäck automatisiert im Flugzeug verstauen lässt, erkunden Wittenstein Aerospace & Simulation und TelAir. Lösungen für ein besseres Sitzen konstruiert Flugsitzhersteller Recaro.
Deutsche Unternehmen verfügen im Bereich Kabinenausstattung über eine hohe Kompetenz. Die im hessischen Herborn ansässige Sell GmbH
beispielsweise ist Weltmarktführer für den Bau und die Einrichtung von Flugzeugküchen – den sogenannten Cateringmodulen. Firmengründer
Werner Sell hatte in den 1950er Jahren für die neu gestartete Lufthansa die erste Bordküche der Welt produziert.
Recaro Aircraft Seating ist einer der weltweit führenden Anbieter von Flugzeugsitzen. Die Spezialisten aus Schwäbisch Hall haben es geschafft, Sitze so zu konstruieren, dass davon noch mehr ins Flugzeug passen – aber gleichzeitig jeder Passagier mehr Beinfreiheit hat als vorher. Möglich wird das durch eine schlankere Rückenlehne in Verbindung mit patentierten Lösungen wie beispielsweise der hohen Literaturtasche. Diese befindet sich nicht mehr im Kniebereich des Fluggastes, sondern oberhalb des Tisches.
Die im baden-württembergischen Laupheim angesiedelte Diehl Aerosystems Holding bündelt gleich vier auf den Innenausbau von Flugzeugen spezialisierte Diehl-Gesellschaften. Sie produzieren im Konzernverbund ebenso Seitenwände wie Deckenverkleidungen, Gepäckfächer, Beleuchtungselemente, Küchen, Waschräume und Toiletten. Diehl ist damit einer der führenden Systemanbieter für die Kabine sowie ein bedeutender Innovationstreiber im Kabinenbereich.
Ein von Diehl angedachtes Sanitärkonzept der Zukunft ist zum Beispiel eine besonders Raum sparende Toilette für Langstreckenflieger. Sie besteht aus drei kompakten Einheiten: Um einen zentralen Wasch- und Umkleideraum platzieren die Diehl-Techniker zwei Urinale. Vorteile: Die konventionellen Toiletten an Bord bleiben weitgehend den weiblichen Fluggästen vorbehalten. Außerdem gewinnt die Airline Platz für zusätzliche Sitze im Passagierraum.
Eine weitere Diehl-Studie setzt auf eine umwandelbare Toilette. Nach Erreichen der Reiseflughöhe kann die Kabinencrew mit wenigen Handgriffen das Standard-WC im Eingangsbereich des Flugzeugs zu einer King size-Toilette umwandeln. Sie nutzt den nur während des Boardings benötigten Kabinenbereich mit. Das sogenannte „High Integrated Flexible Lavatory HILA“ bietet auch mehr Freiraum für körperlich behinderte Fluggäste.
Mit der Zusammenarbeit reagieren die Zulieferer auf einen grundlegenden Wandel in der Luftfahrtindustrie. Bislang entwickelten und produzierten sie weitgehend nach detaillierten Vorgaben der Flugzeugbauer wie Airbus. Mehr und mehr übernehmen die Supplier selber die Entwicklung neuer Produkte – Airbus fokussiert sich auf Architektur und Integration. „Auf diese Weise wollen die Flugzeugbauer den Innovationsprozess beschleunigen, die Wertschöpfungskette straffen und Kosten reduzieren. „Alle Flugzeughersteller haben ein Interesse daran, die Zahl ihrer Zulieferer und unmittelbaren Technologiepartner geringer zu halten als in der Vergangenheit“, bestätigt Stefan Berndes. „International gefragt sind also Unternehmen, die als Systemanbieter auftreten und dem Flugzeugbauer ein fertiges Modul liefern.“
Die in der Automobilindustrie längst erfolgreich praktizierte Arbeitsteilung kann mittelständischen Firmen beachtliche Vorteile bringen. Berndes: „Sie sind damit nicht mehr nur eine verlängerte Werkbank, sondern können ihre neuen Produkte auch weltweit an andere Luftfahrtunternehmen verkaufen.“
Mit innovativen Lösungen für den Kabinenbereich stoßen die Firmen in einen lukrativen Markt: Die Nutzungsdauer einer Passagiermaschine liegt zwar bei 20 bis 25 Jahren. Die Innenausstattung wechseln die Airlines inzwischen aber bereits nach jeweils fünf bis sechs Jahren aus. Grund für die sogenannten Retrofits: moderneres Design, bessere Technik, leichtere Materialien und mehr Erlebniswert. Damit das Fliegen noch schöner wird.
Visionen für die Kabine der Zukunft
Die in Deutschland ansässige Luftfahrtindustrie entwickelte in den letzen Jahren im Rahmen des BDLI-Kompetenznetzwerks Cabin / Cargo ein gemeinsames Konzept für künftige Kabinen- und Frachtraumlösungen. Unter dem Slogan „Imagine innovations flying tomorrow“ visualisierten sie fünf bahnbrechende Entwicklungen für den Einsatz im Kurz- und Mittelstreckenverkehr.
Das BDLI-Kompetenznetzwerk präsentiert das Zukunftskonzept auf der Fachmesse Aircraft Interiors Expo (9. bis 11. April 2013) in Hamburg und als Video im Internet (www.youtube.com/watch?v=CJmCGXsecvQ). Das sind die zentralen Entwicklungsthemen:
Connectivity Cloud: Kommunikation ohne Grenzen
An Bord können Passagiere künftig per Smartphone, Tablet-PC oder Notebook während des gesamten Fluges mit der gleichen Übertragungsqualität wie auf der Erde telefonieren oder im Internet surfen. In der Zukunft wird es zudem so etwas wie eine elektronische Bordkarte geben. Ein darin integrierter RFID-Chip mit den persönlichen Daten des Fluggastes kann an speziellen Stationen ausgelesen werden. An den Security-Schleusen ließe sich so feststellen, dass jemand wirklich spät dran ist und deshalb bevorzugt abgefertigt werden sollte. Beim Boarden erkennt das System, welchen Platz der Passagier sucht und leitet ihn über Pfeile am Boden und an der Kabinenwand gezielt dorthin. Beim Catering sieht die Crew auf ihrem Display gleich, welches Menü der jeweilige Fluggast vorbestellt
hat.
Max Space Architecture: Die doppelstöckige Kabine
Für City-Verbindungen eingesetzte Kurz- und Mittelstreckenflugzeuge befördern meistens Personen ohne viel Gepäck. Die Frachträume sind deshalb häufig nur zum Teil gefüllt – und könnten eigentlich für zusätzliche Sitzkapazitäten genutzt werden. Diese Überlegung führte zur Vision einer doppelstöckigen Kabine: Passagiere sitzen dort wie in Regionalexpresszügen der Bahn in zwei Ebenen. Diese doppelstöckige Kabine befindet sich in der vorderen Hälfte des Flugzeugs. Die hintere Hälfte verfügt über eine konventionelle Kabine (einstöckig) und einen konventionellen Frachtraum.
Storage Management: Intelligente Boxen fürs Handgepäck
Statt Gepäckfächer über dem Kopf könnte es künftig in Flugzeugen für Aktenkoffer, Kleidungsstücke oder Mitbringsel automatisierte Gepäcklagersysteme geben – ein sogenannter Luggage Revolver, der zirkular um die Kabine rotiert: Der Passagier schiebt beim Einstieg im Eingangsbereich des Flugzeugs sein Handgepäck in ein Schubfach. Die Box verschwindet nach dem Verschließen in einem zentralen Lagerbereich innerhalb des Flugzeugs. Beim Aussteigen erkennt das
System den Fluggast anhand seiner elektronischen Bordkarte wieder und stellt ihm seine Gepäckbox blitzschnell zur Verfügung.
Interaktive Surface: Die Kabinenwand als Monitor
Mit dem Einsatz sogenannter Organischer Leuchtdioden, genannt OLEDs, wäre es möglich, Aufnahmen des Außenbereichs und des Flugzeugumfeldes auf hauchdünne Folien zu projizieren. Derartige Projektionsflächen könnten für das Anzeigen aktueller Informationen oder das Abspielen großformatiger Filme verwendet werden. Diese optische Veränderungsmöglichkeit der Kabineninnenwände verschafft den Fluggesellschaften eine vielfältige Wandlungsfähigkeit und damit vielseitige Nutzungsmöglichkeiten, die sich an den unterschiedlichen Passagieranforderungen orientieren. Je nach Passagierart kann das Layout eher auf Business oder Ferien ausgerichtet werden.
Hygiene Lavatory: Toiletten zum Wohlfühlen
Im Fokus steht hier die Wahrnehmung von Hygiene und das gezielte Ansprechen unterschiedlicher Sinne. Dazu gehört zum Beispiel, dass alle Sanitärbereiche berührungslos bedienbar sind – so etwa die Wasserspülung der Toilette. Auf der Erde gibt es dafür schon Lösungen, die aber müssen auf die speziellen Anforderungen in einem Flugzeug angepasst werden. Angedacht wird auch, die Innenverkleidung der Lavatory mit einer interaktiven Oberfläche zu versehen, die einen Toilettenraum optisch größer erscheinen lässt.
Foto: Carstino Delmonte